von Christopher Lucht
Der Oderland-Jugendrat macht sich auf die Socken. (Foto: Bartosz Boniecki)
1. Einleitung
Wie lässt sich Jugendbeteiligung langfristig, nachhaltig und vor allem grenzüberschreitend realisieren? Diese Frage beschäftigt das Bildungs- und Begegnungszentrum Schloß Trebnitz e.V. in unterschiedlichen Formaten immer wieder neu, immer aber aufbauend auf den Ergebnissen und Erfahrungen der Vorgängerprojekte. So hat sich vor zwei Jahren aus der deutsch-polnischen Jugendagora (vgl. entsprechenden Beitrag in diesem Band) der Oderjugendrat entwickelt und daraus dann in diesem Jahr der Oderland-Jugendrat (OLJR), der sich speziell mit dem Themenkomplex "Demografischer Wandel in der Grenzregion" befasst. Die Entstehungsgeschichte macht aber auch deutlich, dass grenzüberschreitende Jugendbeteiligung kein Selbstläufer ist. Immer wieder müssen wir Jugendliche und Politiker der Region zusammenbringen, um über wichtige gesellschaftliche Herausforderungen zu diskutieren. Langfristig wollen wir ein sich selbst tragendes permanentes Beteiligungsgremium in der deutsch-polnischen Grenzregion im Oderland schaffen. Der Oderland-Jugendrat ist ein weiterer Schritt auf diesem steinigen Weg. Denn neben engagierten Jugendlichen bedarf es auch auf Seiten der Kommunalpolitik der Bereitschaft, sich auf echte Jugendpartizipation einzulassen. Beim Projekt Oderland-Jugendrat kommt tatsächlich beides zusammen.
Das deutsch-polnische Jugend-Beteiligungsprojekt ist nämlich als offizielles beratendes Gremium in ein regionales Bündnis der lokalen Gebietskörperschaften eingebettet. Und das kam so: Im September 2011 schlossen vier Ämter und zwei amtsfreie Gemeinden eine Kooperationserklärung ab, deren Ziel es ist, einen gemeinsamen Lebens- und Wirtschaftsraum zu entwickeln. Dieses lokale Bündnis "Oderbruch und Lebuser Land" beteiligte sich im September 2011 an einem MORO-Wettbewerb. Bundesweit insgesamt 156 Regionen hatten sich um eine Teilnahme beworben. 21 wurden ausgewählt, die nun einen Masterplan zur Bewältigung des demografischen Wandels für ihre Region ausarbeiten sollten, darunter die Oderland-Region. In dem Konzept der Oderregion ist u.a. vorgesehen, dass ein offizieller deutsch-polnischer Jugendrat als beratendes Gremium im MORO-Projekt die Interessen und Sichtweisen der deutschen und polnischen Jugendlichen mit einbringen soll. Mit dieser Aufgabe wurde dann der OLJR betraut, und zwar weil er im vorangegangenen Jahr offenbar gute Arbeit geleistet und sich bei den politischen Entscheidungsträgern der Region einen Namen gemacht hatte.
Nachdem unser Projekt vom EU-Programm "Jugend in Aktion" im Bereich "Jugenddemokratieprojekte" eine Förderzusage erhalten und auch der Landesjugendring Brandenburg das Projekt in die Reihe "Werkstätten der Demokratie" aufgenommen hat, befassen sich seit September 2012 nunmehr 24 Jugendliche aus Deutschland und Polen mit dem Thema "demografischer Wandel in der Oderregion". Die Schülerinnen und Schüler aus Seelow, Kostrzyn und Boleszkowice wollen verstehen, was dieses sehr abstrakte Phänomen diesseits und jenseits der Oder konkret bewirkt und warum vor allem die Zahl der hier lebenden Jugendlichen und Kinder, sollten die Prognosen stimmen, in den nächsten 20 Jahren weiter drastisch abnehmen wird. Die zentrale Frage, die sie bearbeiten, lautet: Wie können trotz des demografischen Wandels flächendeckend Bildung, Mobilität, Sicherheit, Gesundheitsbetreuung und Freizeitmöglichkeiten für alle gesichert werden?
Auf einer übergeordneten Ebene geht es aber auch um folgende Herausforderungen: Wie kann der Dialog quer durch alle Generationen und über Grenzen hinweg lebendig gehalten werden, um alle ins Boot zu holen und niemanden zurückzulassen? Welche Beweggründe veranlassen junge Menschen ihre Region zu verlassen und was treibt sie dazu, zurückzukehren und ihr Potential an Ort und Stelle zu entfalten? Wie kann eine Intensivierung der deutsch-polnischen Beziehungen im grenznahen Raum die Region beiderseits der Oder attraktiver machen? Welche Interessen haben speziell die Jugendlichen und wie kann dafür gesorgt werden, dass ihre Wünsche und Anliegen bei den Weichenstellungen für die Zukunft mit berücksichtigt werden? Dies ist zweifellos ein sehr anspruchsvoller und umfassender Fragenkatalog, der in einem Projekt, das lediglich auf zwölf Monate und fünf gemeinsame Treffen angelegt ist, oft nur angedacht werden kann. Aber allein die Beschäftigung mit den Problematiken macht allen Beteiligten deutlich, wo der Schuh drückt und wo wirklich Handlungsbedarf besteht.
Neben viel Zeit braucht dieses Vorhaben vor allem auch einen die beteiligten Gemeinden übergreifenden direkten politischen Ansprechpartner, den es in den ersten beiden Projekten (Oderjugendrat) nicht kontinuierlich gab. Mit der MORO-Koordinierungsstelle, in der die Bürgermeister aus der Oderregion vertreten sind, verfügen die Jugendlichen in der Region jetzt über einen direkten und konstanten politischen Ansprechpartner und auch über einen direkten inhaltlichen Auftrag.
Der Jugendrat bringt als beratendes Gremium im laufenden MORO-Projekt die Interessen und Sichtweisen der Jugendlichen vor Ort mit ein. Dazu fanden bisher insgesamt fünf dreitägige Treffen im Schloss Trebnitz statt. Die Jugendlichen erkundeten die Region, befassten sich mit den Problemen des demografischen Wandels, erstellten Zukunftsszenarien, erörterten Lösungsmöglichkeiten und diskutierten mit den lokalen Entscheidungsträgern, um sich konstruktiv in aktuelle Entwicklungsprozesse ihrer Region einzubringen. Die Schülerinnen und Schüler erstellten einen Videoclip und erfuhren so wichtige Funktionsweisen einer wirksamen Öffentlichkeitsarbeit in all ihren Facetten. Schlüsselkompetenzen der Jugendlichen wurden durch Sprachanimation sowie Methoden des Interkulturellen Lernens gestärkt.
Die deutsch-polnische Zusammensetzung in diesem Projekt bringt es zwangsläufig mit sich, dass es zu einem kulturübergreifenden Austausch und zu kulturell bedingten Missverständnissen kommt. Denn unser Blick auf die Wirklichkeit ist häufig geprägt durch Vorannahmen und Selbstverständnisse, die im alltäglichen Leben gar nicht mehr als solche erkennbar sind. Sichtweisen erscheinen in einer Kultur als "normal" und Zustände als "selbstverständlich", weil es an Gelegenheiten fehlt, diese überhaupt zu hinterfragen. Irritationen, Perspektivwechsel und neue Bewertungen entstehen erst durch die Konfrontation mit "dem Anderen". Interkulturelle Methoden dienen dazu, neue Wertvorstellungen und Blickrichtungen kennenzulernen. Sie helfen dabei, im Spiegel des Anderen die eigene Kultur neu zu sehen und zu entdecken (zu Schlüsselkompetenzen vgl: Jugend in Aktion 2011, 23-27).
Das Projekt bot so einen breiten Methoden-Mix, bei dem sich jeder interessierte Jugendliche mit seinen Stärken einbringen konnte. Jugendliche konnten mitmischen und sich nicht nur als Objekt, sondern als Subjekt politischer Entscheidungsprozesse begreifen.
Als Logo für den OLJR haben die Jugendlichen ein Paar Socken gewählt: Eine Socke in Schwarz Rot Gold, die andere in Weiß Rot, also den jeweiligen Nationalfarben. Damit wollten sie zeigen, dass die Region nicht auf einem Bein stehen kann, sondern beide Füße braucht, um voranzukommen. Auch sie wollten sich im Projekt "auf die Socken" machen und am demokratischen Prozess mitwirken. Wenn man will, kann man an diesem Logo noch zahlreiche weitere Assoziationen zum Thema "Deutsch-polnische Zusammenarbeit und Demokratie" entdecken.
Wichtig war uns dabei auch die europäische Dimension der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. In krisengeprüften Zeiten, in denen das weitere Zusammenwachsen und Zusammenwirken Europas lebhaft diskutiert wird, wollte das Projekt den Jugendlichen aus Deutschland und Polen eine Stimme geben (vgl. Cohn-Bendit/Beck 2012). Denn für die Jugendlichen in der deutsch-polnischen Grenzregion beschränkt sich Europa nicht nur auf die europäische Einheitswährung "Euro", zumal auf absehbare Zeit in Polen weiterhin der Zloty das allgemein gültige Zahlungsmittel bleiben wird. Europa bedeutet vielmehr, Grenzen zu überschreiten, gemeinsam Probleme zu lösen, zusammen zu arbeiten und zu leben. Europa ist hier Alltag.
Die Arbeit des Oderland-Jugendrates hat sich im Laufe des Jahres bis in die Landeshauptstadt Brandenburgs nach Potsdam herumgesprochen. So ist das Projekt als Demografie-Beispiel des Monats Juni 2013 ausgezeichnet worden. Der Chef der Brandenburger Staatskanzlei, Staatssekretär Albrecht Gerber, ehrte damit erstmals ein deutsch-polnisches Projekt mit dieser Auszeichnung. Er überreichte die Urkunden am 12. Juni 2013 bei einem Besuch in Trebnitz. In der Begründung heißt es: "Der Jugendrat wirkt insbesondere mit bei der Entwicklung innovativer Strategien zur Sicherung der Daseinsvorsorge im ländlichen Raum. Dabei geht es nicht nur um das Oderland, sondern auch um das Zusammenwachsen mit den Nachbarregionen in Polen."
2. Konzeptionelle Grundlagen
Beim OLJR geht es methodisch um die Implementierung einer langfristig etablierten, grenzüberschreitenden Beteiligungsstruktur für Jugendliche – also praktisch um eine transnationale Weiterentwicklung der seit einigen Jahren auch in Brandenburg geführten Diskussion um die flächendeckende Gründung von Jugendparlamenten und Jugendräten. Über die Vorteile von Jugendbeteiligungsstrukturen gibt es inzwischen zahlreiche Studien (vgl. Olk/Roth 2007, 39-57) und praktische Anleitungen (z.B. Dachverband Schweizer Jugendparlamente 2010).
Verstärkte Beteiligung von jungen Menschen in modernen Gesellschaften kann zusammengefasst als echte Win-Win-Situation angesehen werden. Viele der gängigen Argumente treffen auch auf die deutsch-polnische Grenzregion und somit unser Projektgebiet zu. Im Raum diesseits und jenseits der Oder kommen aber noch einige zusätzliche Punkte hinzu. Denn in Grenzregionen fehlt oft das Hinterland. Das heißt, wenn man nicht grenzüberschreitend zusammenwirkt und zusammenarbeitet, dann fehlen einer Region praktisch die Hälfte der Möglichkeiten, die sonst ohne Grenze zur Verfügung stehen würden. Insofern besteht in Grenzregionen ein originäres Interesse an Kooperation und Partnerschaft. Diese entsteht aber nicht automatisch, sondern muss organisiert und bewusst geschaffen werden. Insofern braucht die Oderregion dauerhaft Strukturen, die die Interessen der Jugend berücksichtigen.
Mit dem grenzüberschreitenden Jugendrat betreten wir echtes Neuland. In der Literatur und im Internet sind kaum Beispiele für längerfristig funktionierende konkrete grenzüberschreitende Jugendräte zu finden. Am Rhein zwischen Kehl und Straßburg sowie im Dreiländereck zwischen Deutschland, Frankreich und der Schweiz bzw. in Zittau an der deutsch-polnisch-tschechischen Grenze wurden zwar ähnliche Schritte initiiert, allerdings oft mit sehr globalen Politikinhalten. Auch die sonstigen Europäischen Jugendparlamente (vgl. www.eyp.de oder www.mep-germany.de [Stand: 05.09.2013]) befassen sich eher mit den großen Politikfragen und weniger mit konkreten Problemen vor Ort bzw. zwischen Grenzregionen.
Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, hat das Konzeptteam folgende Grundüberlegungen angestellt:
- Der Trebnitzer OLJR bezieht sich thematisch auf kommunalpolitisch-grenzüberschreitende Fragen.
- Der OLJR wird konkret von der Verwaltung des MORO-Konsortiums in Auftrag gegeben und von den beteiligten Städten unterstützt und mitgetragen.
- Der OLJR versteht sich nicht nur als Partizipationsprojekt, sondern auch als Bildungsprojekt. Die Liste der politischen Vorschläge entsteht aufgrund von verschiedenen Bildungsprozessen bei den Jugendlichen und dokumentiert die intensive Auseinandersetzung der Jugendlichen mit dem Thema.
- Die Umsetzung der Vorschläge der Jugendlichen erfolgt, indem die Ergebnisse zunächst mit den Politikern diskutiert werden und in den Abschlussbericht des MORO-Projektes mit einfließen.
- Die Jugendlichen müssen verstehen, dass Beteiligungsprozesse Zeit brauchen und dass nicht alles, was gewünscht wird, auch umgesetzt werden kann. Daher muss den beteiligten Jugendlichen immer wieder deutlich gemacht werden, welche konkreten Auswirkungen das Beteiligungsverfahren hat bzw. haben kann.
- Die Jugendpartizipation wird als Aushandlungsprozess verstanden, in dessen Verlauf die Jugendlichen sich mit ihren Ideen als Gruppe in Kooperation, Konkurrenz und ggf. Gegnerschaft zu anderen gesellschaftlichen Akteuren stellen und der von Machtkonstellationen, rechtlichen Rahmenbedingungen, Verfahrensregelungen und unterschiedlichen Interessen geprägt ist.
- Die Jugendlichen sind nicht durch Zufallsverfahren ausgewählt, sondern haben sich aus Eigeninitiative und freiwillig zum Projekt angemeldet.
Wenn zur Lösung eines Problems Expertenrat von Nöten ist, kommt man meist nicht auf die Idee, Jugendliche zu fragen. Das ist leider weitgehend Realität. Erst recht, wenn es um politische Themen geht. Das hier vorgestellte Jugendprojekt folgt einem anderen Ansatz. Es ermöglicht Jugendlichen, Experten eines Themas zu werden, das sie selbst betrifft – indem sie Informationen sammeln, diese diskutieren und ihre Bewertungen und Veränderungsvorschläge dazu vorlegen. Junge Leute können sich so mit ihrem Wissen und ihren Kompetenzen zu Wort melden. Sie schaffen beste Voraussetzungen, sich aktiv in politische Planungs- und Entscheidungsprozesse einzubringen, auch grenzüberschreitend bzw. auf europäischer Ebene (vgl. Jugend für Europa 2010). Der OLJR versteht sich aber auch – ähnlich wie das bereits vielfältig praktizierte und publizierte Planspiel Kommunalpolitik (vgl. Friedrich Ebert Stiftung 2007) – als Methode des aktiven Kennenlernens von Strukturen und Abläufen politischer Entscheidungsprozesse.
Mit dem OLJR sollte die Möglichkeit gegeben werden,
- Jugendlichen thematisch wichtige Sachkenntnisse über kommunalpolitische und grenzüberschreitende Strukturen und Abläufe, Perspektiven und Probleme zu vermitteln, die u.a. im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel stehen,
- die Demokratie- und Entscheidungsfähigkeit und die sachorientierte Kommunikationsfähigkeit Jugendlicher durch den Prozess der Erarbeitung eines MORO-Gutachtens zu stärken,
- den unmittelbaren Kontakt zwischen kommunaler Verwaltung bzw. Politik und Jugendlichen zu beleben und zu unterstützen,
- bürgerfreundliche, innovative und jugendgerechte Lösungen bei kommunalpolitischen, grenzüberschreitenden Problemen der Daseinsvorsorge zu befördern,
- zu zeigen, dass Jugendliche mit fundierten Kenntnissen und Vorschlägen konstruktiv zu politischen Entscheidungsprozessen beitragen können.
3. Ablauf
Der OLJR war auf insgesamt fünf offizielle dreitägige Treffen angelegt. Zusätzlich bzw. im Rahmen dieser Treffen sollten auch Exkursionen bzw. Begegnungen mit anderen Jugendbeteiligungsprojekten in der deutsch-polnischen Grenzregion organisiert werden. Als Teilnehmende konnten wir auf deutscher Seite Schülerinnen und Schüler vom Gymnasium Seelower Höhe gewinnen, wobei lediglich ein Teilnehmer auch am Vorgängerprojekt Oderjugendrat mitgewirkt hatte (die anderen waren aufgrund des Abiturs/Studienbeginns ausgeschieden). Zur Teilnehmergewinnung sind die beiden Teamenden in die Schule gegangen und haben im Unterricht das Projekt vorgestellt. Dies hat sich als lohnende Methode erwiesen, ist es doch sonst bei den Schulen im Oderbruch eher schwierig, nur auf den Einsatz der zuständigen bzw. engagierten Lehrerinnen und Lehrer zu vertrauen. Auf polnischer Seite konnten wir dagegen auf die Partnerlehrerinnen und -lehrer sowie auf ehemalige Mitglieder des Oderjugendrates zählen. Eingeladen zum Projekt waren zwei Schulen: eine aus Boleszkowice (Gymnasium – bis 9. Klasse) sowie das Lyzeum aus Kostrzyn (ab 10. Klasse - Schulzentrum Marie Sklodowski Curie Kostrzyn). Die Teilnahme war also freiwillig: Nur die Schülerinnen und Schüler, die Lust auf Partizipation hatten, haben sich für das Projekt bei ihren Lehrerinnen und Lehrern bzw. Schloß Trebnitz e.V. auch angemeldet. Das Alter der Jugendräte lag zwischen 14 und 18 Jahren.
3.1 Demografischer Wandel (Auftaktveranstaltung)
Beim Auftakttreffen des deutsch-polnischen Oderland-Jugendrates am 15. Oktober 2012 im Schloss Trebnitz stand ein Gespräch mit Thomas Drewing (MORO - Projektkoordinator für die Stadt Seelow) und Hans-Jürgen Hempel (Berliner Stadt-Planungsbüro PFE) auf der Tagesordnung, bei dem es darum ging, den Teilnehmenden die Grundproblematiken des demografischen Wandels in der Region zu vermitteln. Die beiden Experten erläuterten zunächst die Bevölkerungsprognosen für die Zeitperiode bis 2030 für das Oderbruch. Daraus war abzulesen: Die Bevölkerung wird in Zukunft weiter drastisch abnehmen. Vor allem beim Nachwuchs werde es zu einem dramatischen Rückgang kommen. Dies werde vor allem auch deutliche Auswirkungen auf die Schul-Infrastruktur haben. So könnten von den derzeit acht Grundschulstandorten bis 2030 wohl nur noch vier die notwendige Stärke von 90 Schülern aufweisen. Hier – wie auch bei den Schulen der Sekundarstufen I und II (Oberschulen und Gymnasium Seelow) – müsse über die Zusammenlegung sowie über jahrgangsübergreifende Unterrichtskonzepte nachgedacht werden. Anschließend belegten die Referenten den derzeitigen Trend zum Wegzug von – vor allem – jungen Frauen durch eine Meinungsumfrage: Je weiter entfernt sie ihre Ausbildung absolvierten, desto niedriger sei die Chance, dass sie nach Abschluss der Ausbildung wieder in die Oderregion zurückkehrten. Grund: Es gebe einfach zu wenige Ausbildungsplätze für qualifizierte junge Erwachsene und anschließend auch zu wenige qualifizierte Arbeitsangebote. Da viele aber "nur" nach Berlin ziehen würden, gäbe es ein großes Potential für eine Rückkehr in die Heimat.
In der anschließenden Diskussion hatten die Jugendlichen zunächst einige Anmerkungen und Fragen zu den Themen Schule, Ausbildung und Familienpolitik. Vor allem aber die Frage nach den Freizeitmöglichkeiten für Jugendliche in der Region erregte die Gemüter. Kritisiert wurde, dass in den Statistiken zwar alle existierenden Jugendclubs in der Region aufgeführt seien, aber Angaben über die Qualität dieser Einrichtungen nicht vorlägen. In Bezug auf den Jugendclub in Neuhardenberg wurde von den Jugendlichen beispielsweise bemerkt, dass selbst Schülerinnen und Schüler von dort diesen Club nicht kennen würden. Ähnlich sei es auch in anderen Gemeinden im Oderbruch. Es gäbe wohl durchaus in vielen Orten so etwas wie Jugendclubs, allerdings seien das Angebot und die Qualität der Betreuung oft nicht jugendgerecht.
Auf die Frage, ob es beim MORO Projekt eher um die Verwaltung des Mangels als um die Formulierung von politischen Strategien gehe, den negativen Trends entgegenzusteuern, antwortete Herr Hempel vom Planungsbüro, es sei "nicht die Aufgabe des Projektes". MORO drehe sich lediglich "um die Sicherung der Daseinsvorsorge im Prozess des prognostizierten demografischen Wandels". Daher seien auch die Jugendclubs bisher qualitativ nicht evaluiert worden. Denn sie gehörten nicht zum gesetzlichen Auftrag der Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge, ergänzte Herr Drewing.
Das Fazit nach dem ersten Treffen: "Es ist einiges zu tun für den Oderland-Jugendrat". Denn die Jugendlichen wollten, dass der Mangel nicht nur verwaltet wird, sondern dass die Politik Strategien und Ideen entwickelt, damit die Region für alle Generationen attraktiver wird bzw. attraktiv bleibt. Daher wurde vom OLJR beschlossen, in dem Projekt zunächst das Thema der qualitativen Evaluierung der Jugendarbeit und der tatsächlichen Freizeitmöglichkeiten aufzugreifen und damit den MORO-Prozess inhaltlich sowie qualitativ zu erweitern und zu vertiefen. Als weiteren Schritt wollten wir dann bei der Berufsbildungsmesse in Seelow mit den Jugendlichen der Region ins Gespräch kommen, um herauszufinden, wie sie den demografischen Wandel in ihrem Umfeld wahrnehmen und wie sie ihre eigene Ausbildungsstrategie daran ausrichten. Bei unserem anschließenden Treffen am 16. November 2012 wollten die Jugendlichen dann auch einen kurzen Video-Clip drehen, um die Auswirkungen des demografischen Wandels für Jugendliche im Oderbruch anschaulich zu illustrieren.
3.2 Seelower Berufsbildungstage
Am 2. November 2012 fand im Seelower Oberstufenzentrum ein Berufs- und Bildungstag statt, bei dem wir eine Umfrage zum Thema Leben und Arbeiten Jugendlicher in der Oderlandregion durchgeführt haben. Ca. 50 Fragebögen wurden von den Schülerinnen und Schülern aller Schulformen ausgefüllt. Thematisch war der Fragebogen in vier Bereiche gegliedert: Heimat, Politik, demografischer Wandel, Ausbildung. Es kam dabei zu folgenden statistischen Ergebnissen:
Fast alle Befragten zeigten sich mit ihrer Heimat stark verbunden. Vor allem die Natur, die Ruhe und die Freundschaften wurden als positiv genannt. Negativ wurden die Freizeitmöglichkeiten, die Arbeitsplatzsituation sowie der nicht ausreichende öffentliche Nahverkehr bewertet.
Auf die Frage, ob sie glauben, Einfluss auf Entscheidungen der Politik zu haben, antworteten sechs mit Ja aber 32 mit Nein (die Summen ergeben immer unterschiedliche Resultate, da viele Jugendliche den Fragebogen nicht vollständig ausgefüllt haben bzw. sich nicht abschließend entscheiden konnten). Ob Jugendliche mehr Einfluss haben sollten beantworteten nur elf mit Nein dagegen 28 mit Ja. Auf die Frage, was Politik für sie bedeute, gab es sehr unterschiedliche Reaktionen. Hier einige der stichworthaften Äußerungen: "Etwas zu bewirken; Reden ist Silber Schweigen ist Gold – aber ob Reden soviel bringt?; Mitentscheiden können; wo ich selber bestimme; ist für mich was für Erwachsene; sehr wichtig; was mein Land hat; mitentscheiden; die sich mit uns Menschen befassen und die unsere Wahl auch interessiert; wir werden überstimmt; fürs Wohlergehen der Menschen sorgen; was die Bürgermeister und so machen; Angela Merkel; Barack Obama; wo man spricht aber nichts tut; die großen Entscheidungen über Deutschland; Entscheidungen treffen." 21 Jugendliche machten gar keine Angaben.
Zum Themenkomplex "Demografischer Wandel" konnten 37 Jugendliche angeben, dass immer mehr Jugendliche das Oderbruch verlassen, 22 spüren diesen Wandel in ihrem direkten Umfeld, aber lediglich zehn glauben, dass die Politik etwas dagegen unternehme.
Der Bereich "Ausbildung" gestaltete sich ebenfalls sehr ambivalent: 20 Jugendliche gaben an, ihre Ausbildung in der Region machen zu wollen, 20 dagegen woanders, 19 Jugendliche sehen ihre berufliche familiäre Zukunft im Oderbruch, 17 dagegen nicht. Immerhin sechs Befragte konnten sich eine Ausbildung in Polen vorstellen, 39 allerdings nicht.
Zu beachten ist bei diesem Umfrageergebnis, dass es sich bei den Seelower Berufsschultagen um eine Veranstaltung handelt, die eher nicht von Gymnasiasten besucht wird, und daher Schülerinnen und Schüler von Gemeinschaftsschulen und Förderschulen überwogen. Daher ist die hohe Zahl von Aussagen zu Ausbildungsabsichten in der Region zu relativieren. Die offiziellen MORO-Statistiken geben nämlich viel geringere Prozentsätze hierzu an. Alles in allem gab es jedoch eine deutliche negative bzw. sehr zurückhaltende Stimmung bei den Befragten, was ihre Zukunftschancen in der Region betrifft. (Eine Befragung der polnischen Jugendlichen zu ihren Zukunftserwartungen in Bezug auf die Region steht noch aus.)
Konzentrierte Arbeitsatmosphäre und ein produktives Miteinander.
3.3 Jugendarbeit im Oderland (Zweites Treffen)
Bei unserem zweiten offiziellen Treffen im November 2012 stand ein Besuch der Ausstellung des Kinderrings Neuhardenberg in Alt Zeschdorf auf dem Programm. Wir wollten dabei herausfinden, was die Jugendarbeit in der Oderregion qualitativ und quantitativ zu bieten hat.
Bei der Ausstellung wurden die Aktivitäten der im Kinderring zusammengeschlossenen Träger der Jugend- und Kinderarbeit in den Ämtern Neuhardenberg, Golzow und Lebus der Öffentlichkeit präsentiert. Im Rahmen dieses Nachmittags haben wir von den Mitarbeitenden der Jugendclubs Fragebögen ausfüllen lassen.
Die Zusammenstellung der Arbeitsergebnisse aller Jugendclubs der Region im Gemeindehaus Alt Zeschdorf war sehr bunt, vielfältig und qualitativ ansprechend, z.B. europäische Themen und Länder, Geschichtsprojekte (DDR), selbstgedrehte Filme, kreative Bastelarbeiten (Picasso-Skulpturen), Theater, Tanzen. Dabei lag das Alter der aktiven Kinder etwa zwischen zwei und 14 Jahren, ältere Jugendliche waren nicht anwesend. Sie scheinen wohl eher die freien Angebote und die Sportaktivitäten anzunehmen. Interessant war zu sehen, dass es in wirklich zahlreichen Orten Kinderclubs gibt, die auch regelmäßig und täglich geöffnet haben. Ferien und Freizeitaktivitäten werden entweder alleine oder unter dem Dach des Kinderrings Neuhardenberg durchgeführt. Teilweise gibt es auch deutsch-polnische Aktionen. Hier scheint es bei den Clubs den Wunsch zu weiterer Zusammenarbeit zu geben. Konkrete Wünsche wurden folgende genannt: Mehr Unterstützung der Eltern, Spiele, CD`s, DVD´s; Internetanschluss, große Brettspiele, festes Personal, mehr Bildungsprojekte. Inwiefern die Öffentlichkeitsarbeit erfolgreich ist, lässt sich von uns auf Grundlage dieser Umfrage nicht beurteilen. Allerdings scheint die Internetseite nicht immer auf dem neuesten Stand zu sein: Beispielsweise wird dort nicht auf die gerade gelaufene Ausstellungsreihe hingewiesen. Ohne den direkten Anruf in Neuhardenberg hätten wir von dieser Aktion nichts erfahren können. Aber offenbar hat hier die Mundpropaganda gut funktioniert, denn der Saal in Alt Zeschdorf war voll besetzt. Allerdings scheint es in der Region doch einen deutlichen Mangel an Angeboten und Aktivitäten für ältere Jugendliche zu geben.
3.4 Treffen mit den Bürgermeistern in Kostrzyn (Drittes Treffen)
Das dritte offizielle Treffen Anfang März 2013 stand ganz im Zeichen des Dialogs mit lokalen Politikern in Kostrzyn. Dazu eingeladen waren die Bürgermeister der Städte Seelow (Jörg Schröder) und Kostrzyn (Andrzej Kunt), der Bezirksleiter von Gorzów (Grzegorz Tomczak), der Gemeindevorsitzende von Boleszkowice (Herr Krzywicki) sowie Kathrin Siegel von der Geschäftsstelle des MORO-Projektes Oderlandregion. Anwesend waren auch zwei Mitglieder des lokalen Jugendparlaments aus Kostrzyn (Kostrzynska Mlodziezowa Rada Miasta).
Nach einer kurzen Vorstellungsrunde diskutierten die Jugendlichen mit den anwesenden Politkern und Verwaltungsexperten über Themen wie Gesundheitsvorsorge, Schule und Politik. Anschließend wurden vier Arbeitsgruppen gebildet zu den Themen "Jugendpartizipation" (Herr Kryzwicki) "Problematik Gesundheitssystem" (Kathrin Siegel), "Arbeitsperspektiven" (Jörg Schröder) und "Schulsystem/Schulprofile" (Grzegorz Tomczak) Viele interessante Ergebnisse kamen dabei zustande, "die gar nicht mal so abwegig von der Realität seien", wie Jörg Schröder bemerkte.
Die Gruppe "Jugendpartizipation" schlug vor, dass jede Stadtverordnetenversammlung zu 30% aus Jugendlichen bestehen sollte - in Polen wären das bis zu vier Mitglieder. Diese Mitglieder hätten dann die Aufgabe, ihre Vorschläge und Ziele den anderen Abgeordneten überzeugend vorzustellen, Finanzierungen zu suchen und in Eigenverantwortung zu realisieren. Jugendliche sollten auf eine solche Abgeordnetenversammlung vorbereitet werden, waren sich die Mitglieder einig. Bei einem der kommenden Treffen des Oderland-Jugendrates sollen daher Sitzungen besucht und ein Planspiel der Kommunalpolitik durchgeführt werden.
Die Gruppe von Kathrin Siegel zum Bereich "Gesundheit" stellte fest, dass es immer weniger Möglichkeiten auf den Dörfern gibt, zum Arzt zu gelangen. Deshalb entwickelten sie die Idee der "Schwester Agnes": Eine mobile Krankenschwester könnte den Ärzten in der Region unter die Arme greifen – die Kostenfrage sei natürlich noch zu klären.
Jörg Schröder und die Gruppe der "Arbeitsperspektiven" war sich sicher, dass deutsch-polnische Sonderwirtschaftszonen viele neue Arbeitsplätze für Menschen mit hohen und anderen Qualifikationen schaffen könnten. Außerdem müsse dafür gesorgt werden, dass es nicht mehr so viel Bürokratie bei grenzübergreifenden Existenzgründungen gäbe und interessierte Unternehmer sich unkompliziert Beratung in sogenannten "Kompetenzzentren" holen könnten. Zusätzlich sollten die Bereiche Bildung, Medizin, Altenpflege, Tourismus sowie Verwaltung und Verkehr besonders gefördert werden, um neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Die Mitglieder der Gruppe "Schulsystem", der Grzegorz Tomczak zur Seite stand, waren sich in einem Punkt sofort einig: Gleiches Recht auf Bildung! Sie forderten die (Landes-)Regierung auf, ein Stipendiensystem für sozial Schwache zu entwickeln. Außerdem war es dieser Gruppe wichtig, die Kreativität der Menschen besonders intensiv zu fördern. Speziell Schülerfirmen sollten unterstützt werden. Dazu sollte man am besten den Lehrplan einer Schule auch an die Anforderungen der Wirtschaft anpassen, was auch wieder bei der Regierung vorgeschlagen werden müsste. Die individuelle Weiterentwicklung jedes Einzelnen müsse auch gewährleistet sein. Eine Voraussetzung dafür seien gut ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer, die auf ihre Schülerinnen und Schüler eingingen. Zusätzlich sollten die Schülerinnen und Schüler in einem Schülerparlament die Möglichkeit haben, Einfluss auf bestimmte Themen zu nehmen. Auch hier spiele die Offenheit und Unterstützung der Lehrpersonen wieder eine entscheidende Rolle. Die zusammenfassende Idee der Gruppe war also ein Konferenztag zwischen Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern sowie der Schulleitung einer Schule, um über das Mitspracherecht der Schülerinnen und Schüler zu beraten.
Zurück im Schloss Trebnitz werteten wir das Diskussionsforum in Kostrzyn aus und erweiterten die Überlegungen zum Thema Jugendbeteiligung und Schule:
Durch jugendgerechte und provokative Werbung könnte man die Jugendlichen dazu motivieren, sich an freiwilligen Organisationen und Projekten zu beteiligen.
Indem man die Zielgruppe direkt anspricht und Öffentlichkeitsarbeit leistet oder an verschiedenen Jugendeinrichtungen beiderseits der Oder zielgruppenorientiert wirbt, weckt man das Interesse der Jugendlichen.
Unsere Idee ist, dass man ein eventuell freiwilliges Schulfach unter dem Namen "Ehrenamtliches Engagement" einführt, für das es auch Noten gäbe. Ein Punktesystem wäre hierfür ideal: Je mehr ich also ehrenamtlich tätig bin, desto mehr Punkte bekomme ich und desto besser ist meine Note in diesem Fach. Mit diesem Fach könnte man auch seinen gesamten Notendurchschnitt verbessern und sich gleichzeitig in der Gesellschaft Anerkennung verschaffen.
Außerdem dachten wir daran, dass es wieder Grundschulen auf den Dörfern geben sollte, in denen sich alle Klassen von 1 bis 6 zusammenschließen und Unterricht haben, denn damit wollen wir erreichen, dass die Schülerinnen und Schüler sich mit ihrem Heimatort identifizieren und dort ein soziales Umfeld aufbauen können.
3.5 Konkreter Forderungskatalog (Viertes Treffen)
Auf Grundlage dieser gemeinsam mit Politikern aus der Region entwickelten konkreten Forderungen und Lösungsansätze für demografische und demokratische Probleme ihrer Region erarbeitete der Oderland-Jugendrat auf seinem vierten Treffen im Juni 2013 einen 22 Punkte umfassenden Forderungskatalog, in dem die Positionen zu den Themen des MORO-Projektes zusammengefasst und zugespitzt wurden.
Partizipation
- Wir fordern ein Mitspracherecht für Jugendliche in der Politik!
- Wir fordern, dass Jugendliche bei Entscheidungen, die sie betreffen, gefragt werden!
- Wir fordern das Wahlrecht ab 16 – auf beiden Seiten der Oder!
Deutsch-Polnische Zusammenarbeit
- Wir fordern mehr deutsch-polnische Kooperationen!
- Wir fordern mehr deutsch-polnische Kooperation in der regionalen Politik!
Schule
- Wir fordern eine Grundschule für jede Gemeinde!
- Wir fordern eine kreativere Schulform – mehr Praxis weniger Theorie!
- Wir fordern einen individuelleren Unterricht, der sich an den Stärken der Schülerinnen und Schüler orientiert!
- Wir fordern eine Schule, die keine Arbeitnehmer ausbildet, sondern Arbeitgeber!
Gesundheit
- Wir fordern mehr Gesundheitszentren und einen besseren Zugang zur medizinischen Versorgung im ländlichen Raum!
- Wir fordern ein gut geschultes medizinisches Personal!
- Wir fordern kürzere Wartezeiten in Arztpraxen und Krankenhäusern!
- Wir fordern eine Befreiung von Arzneimittelkosten für Jugendliche, Senioren und bedürftige Menschen!
Mobilität
- Wir fordern eine bessere Infrastruktur und eine Verbesserung der Mobilität im ländlichen Raum!
- Wir fordern ein besser ausgebautes ÖPNV-Netz!
- Wir wollen den Rufbus im Oderland!
Arbeit / Ausbildung
- Wir wollen bessere Zukunftsperspektiven!
- Wir fordern die Chance auf Arbeit!
- Wir fordern weniger Bürokratie für junge Existenzgründer!
- Wir fordern leichtere Einstiegschancen für Berufsanfänger!
- Wir fordern Steuererleichterungen für junge Arbeitnehmer und Existenzgründer!
- Wir fordern weniger Bürokratie für deutsch-polnische Existenzgründungen!
3.6 Verleihung des Demografie-Preises des Landes Brandenburg (Juni 2013)
Bei der Formulierung der einzelnen Punkte wollten die Mitglieder des OLJR nicht alle Ergebnisse der vier Kostrzyner Arbeitsgruppen im Detail mit in die Liste aufnehmen. Wir wollten vielmehr eine Reihe übergeordneter Forderungen eher grundsätzlicher Natur formulieren. Und genau dies wurde uns dann auch im Rahmen der Preisverleihung "Demografie-Projekt des Monats" von Staatssekretär Albrecht Gerber vorgehalten. In der öffentlichen Diskussion im Juni 2013 im Schloss Trebnitz lobte er zwar zunächst ausdrücklich die Arbeit des OLJR allgemein, kritisierte dann aber auch den Forderungskatalog als zu breit gefächert und zu allgemein gehalten. Außerdem griff er eine Forderung heraus, die er in dieser Form ablehnen würde: Die Forderung nach einer Ausbildung zum Arbeitgeber und nicht zum Arbeitnehmer. Da über 90 Prozent der Berufstätigen in der Region Arbeitnehmer seien, könne man deren Wünsche und Bildungserfordernisse nicht vernachlässigen. Es gab also keine "Kuscheldiskussion", was von allen als sehr erfreulich angesehen wurde.
Die Jugendlichen ließen aber die Kritik nicht einfach unwidersprochen, sondern reagierten und verteidigten ihre Position: Der Katalog sei erst einmal ein Einstieg in das komplexe Thema und müsse daher stellenweise grundsätzliche bzw. allgemeine Aussagen enthalten. Zudem seien die Vorgaben aus dem MORO-Projekt so vielfältig, dass sich die Jugendlichen auch aller Themen annehmen wollten. Vor allem aber drückten sich in den Forderungen auch Grundstimmungen und Befürchtungen sowie Hoffnungen und Erwartungen aus und der Hinweis darauf, mehr praxisorientiert zu arbeiten, indem z.B. Schülerfirmen gegründet werden, Berufspraktika angeboten werden, um die wirtschaftliche Realität erfahrbar zu machen. Denn wenn es eine hohe Arbeitslosigkeit gebe, sei der Weg in die Selbständigkeit oft die einzige Chance, um nicht von staatlichen Leistungen abhängig zu werden.
Abheben oder lieber auf dem Boden bleiben. Die engagierten Mitglieder des Oderland-Jugendrats. (Foto: Bartosz Boniecki)
3.7 Abschlusstreffen in Sachsen
Vom 19.-21. Oktober 2013 hat das Abschlusstreffen des Projektes "Oderland-Jugendrat" stattgefunden. Dazu haben wir uns in die deutsch-polnische Grenzregion nach Sachsen begeben, um andere grenzüberschreitende Jugendprojekte und Initiativen kennenzulernen. In der Europastadt Görlitz/Zgorzelec haben wir uns mit Vertretern der Vereine "Second attempt" sowie "Interclub Femina" getroffen. Sie haben uns von dem Kulturfestival "Fokus" sowie der zur Zeit laufenden Umfrage unter den Jugendlichen der Europastadt zur gemeinsamen Zukunft diesseits und jenseits der Neisse berichtet. Zeitgleich haben sich Vertreter der beiden örtlichen Jugendparlamente zu einer ersten gemeinsamen Sitzung getroffen. Auf die Ergebnisse sind wir sehr gespannt. Inspirierend war auch unser Versammlungsort: Das Kulturhaus in Zgorzelec. Hier wurde nämlich der Görlitzer Vertrag unterzeichnet, in dem die DDR die Ostgrenze zu Polen bereits im Jahr 1950 anerkannt hatte.
Am folgenden Tag stand ein Treffen mit Markus Güttler von dem Bad Muskauer Verein "Turmvilla" auf unserem Programm. Hier ging es auch um die deutsch-polnische Jugendkooperation in Sachsen sowie die Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Jugendarbeit. Alle Kontakte, die wir in diesen zwei Tagen knüpfen konnten, werden wir für zukünftige Projekte und Aktivitäten des Oderland-Jugendrates gut nutzen können. Den Abschlusstag verbrachten wir dann wieder in Brandenburg, und zwar im Tropical Island – einem Ort, der zur kritischen Auseinandersetzung mit Großinvestitionen geradezu herausfordert. Von demografischem Wandel war in der Halle aber nichts zu spüren, ganz im Gegenteil.
Der Blick über den Tellerrand der eigenen Grenzregion in die deutsch-polnische Grenzstadt Görlitz/Zgorzelec und die Aktivitäten des Vereins "Second Attempt" sowie des polnischen Vereins "Interclub Femina" wurden als sehr inspirierend erlebt. Aufgrund dieser Gespräche haben wir uns dann noch einmal zusammengesetzt, um die Trebnitzer Thesen abschließend mit konkreten Überlegungen zu präzisieren. Dabei stand vor allem der Wunsch nach mehr praxis- und berufsbezogener Bildung, außerschulischer Projektarbeit sowie deutschem bzw. polnischem Sprachunterricht im Fokus. Außerdem entstanden konkrete Vorschläge für mehr deutsch-polnische Jugendprojekte, z.B. Kreativ-Workshops und gemeinsame Skate- und BMX-Wettkämpfe sowie eine Broschüre über Jugend- und Freizeitangebote in der Region.
3.8 Kommende Aktivitäten
Wie das Projekt nach 2013 weitergeführt werden kann, darüber wird zur Zeit intensiv bei allen Beteiligten, inklusive den Lokalpolitikern, nachgedacht, denn mit dem Ende des MORO-Projektes fällt dann auch wieder unser politischer Ansprechpartner weg.
Ob es eine langfristige Etablierung einer Jugendbeteiligungsstruktur über die Oder hinweg geben wird, ist zur Zeit Teil der politischen Beratungen. Nach der Preisverleihung durch das Land Brandenburg wurde jedenfalls von den regionalen Entscheidungsträgern die Initiative ergriffen, eine längerfristige Finanzierung des Projektes zu verwirklichen. Dieser Prozess ist bisher nicht abgeschlossen. Klar ist aber, dass unter dem Namen "Oderjugendrat" Folgeprojekte im Schloss Trebnitz durchgeführt werden, die sich jeweils mit anderen thematischen Schwerpunkten befassen werden, im Jahr 2014 wird dies beispielsweise die Einbringung jugendrelevanter Themen in die Europawahl am 25. Mai sein.
Es gibt nach dem Projekt weiterhin offene Baustellen, die sich im Laufe des Projektes aufgetan haben. Es soll noch an einer Sitzung eines Kommunalparlamentes teilgenommen und eine echte Sitzung dazu zur Vorbereitung unseres konkreten Antrages zur Schaffung eines Jugendrates in der Stadt Seelow simuliert werden. Außerdem wollten wir eine Konferenz der Schulleiter zur stärkeren deutsch-polnischen Kooperation im Bildungsbereich sowie zur effektiveren Partizipation der Schülerinnen und Schüler in ihrem Umfeld durchführen, ähnlich unserer Politikerkonferenz in Kostrzyn. Die echte qualitative Evaluation der Jugendclubs im Oderland steht ebenfalls noch aus, genauso wie die Aktivitäten auf polnischer Seite (Jugendbefragung/Jugendclubs). Und mit dem Abschluss der MORO-Ausschreibung ist das Thema demografischer Wandel in der Region auch noch nicht abgeschlossen, sondern wird weiter politische Relevanz für das Oderland entfalten. Die politische Umsetzung der ausgearbeiteten Vorschläge steht zudem noch aus, bei der die Jugendlichen auch weiter beteiligt werden sollten.
4. Erfahrungsreflexion
Staatssekretär Gerber sagte bei der Preisverleihung: "Die Kreativität und die frischen, oft unkonventionellen Ideen junger Menschen werden gebraucht, gerade wenn es um den demografischen Wandel und die damit einhergehenden Veränderungen geht. Die Jugendlichen müssen Möglichkeiten der Mitgestaltung haben, denn es geht auch um ihre Interessen. Der Oderland-Jugendrat zeigt beispielhaft, wie eine Teilhabe aussehen kann. Dieses Engagement stärkt die Verbundenheit mit der Heimat, und wer sich in seiner Region wohlfühlt, plant dort auch seine Zukunft. Besonders wichtig ist auch der grenzübergreifende Ansatz bei der Arbeit des Jugendrates, denn dies- und jenseits der Oder gibt es ähnliche Herausforderungen. Das gegenseitige Kennenlernen und gemeinsame Projekte helfen zugleich beim Zusammenwachsen der Regionen beider Länder und beim Abbau von Vorurteilen."
Das sehen die jungen Leute aus dem Jugendrat auch so. Marten Reim (16) aus Seelow: "Mit dem Projekt wollen wir die deutsch-polnischen Beziehungen aufbauen. Wir machen gegenseitig Vorschläge, was wir in unserer Region verbessern können, damit unsere Städte und Dörfer auch in Zukunft attraktiv bleiben und Perspektiven für uns bieten. Es muss genug los sein, damit sich auch die Jugendlichen wohl fühlen". Und Laura Schabbert (16, ebenfalls aus Seelow) ergänzt: "Demokratie heißt für mich, dass jede Meinung zählt und ernst genommen werden muss. Mir hat das Projekt echt etwas gebracht. Ich bin ein ganzes Stück weitergekommen. Es gibt keine einfachen Antworten, alles hängt miteinander zusammen. Ich habe von den Gesprächen mit den Politikern aus Deutschland und Polen profitiert."
In einer "Festschrift" mit dem Titel "Wir reden mit – Zabieramy glos!", die im Juni 2013 im Vorfeld der Verleihung des Demografiepreises des Landes Bandenburg entstanden ist, haben die Teilnehmenden versucht, den Weg aufzuzeigen, wie sie sich Schritt für Schritt an das komplexe Thema "Demografischer Wandel" angenähert haben. Wie sie sich Informationen beschafft, Politiker in Deutschland und Polen gelöchert und die Ergebnisse parallel zu diesem Prozess in einem Filmprojekt umgesetzt haben. Wie aus intensiven Diskussionen konkrete Ideen und umsetzbare Visionen entstehen, all das ist in diesem Heft dokumentiert.
Bei allen Aktivitäten des OLJR wurde eines deutlich: eine optimistische Grundstimmung der Zusammenarbeit und des gewachsenen Verständnisses über die Grenzen hinweg hat sich verfestigt. Darauf können das Schloss Trebnitz und die Region weiter aufbauen. Ohne kulturelle oder regionale Unterschiede zu nivellieren, wächst so bei den deutschen und polnischen Jugendlichen das Verständnis, dass sie beiderseits der Oder ähnliche Bedürfnisse haben. Sie erkennen, dass nachhaltige Lösungsstrategien für die Region nur funktionieren, wenn sowohl die östliche als auch die westliche Oderregion einbezogen wird. Die Perspektive der Jugend wird so ein entscheidender Faktor für politische Entscheidungen, die bereits heute ihren Alltag in Europa bestimmen und zudem wichtige Weichen für ihre Zukunft stellen.
Die Auszeichnung durch das Land Brandenburg ist ein ermutigender Ansporn, auf dem eingeschlagenen Weg weiterzugehen und die Jugendlichen grenzüberschreitend weiter zu fördern und zu fordern und ihnen immer mehr Verantwortung zu geben.
Apropos Verantwortung: Wie viel Jugendbeteiligung hat sich denn nun wirklich im Projekt verwirklichen lassen? Zwar lässt sich im Moment noch nicht abschließend beurteilen, welchen Einfluss das Projekt konkret hatte. Es lassen sich aber deutliche Tendenzen herausarbeiten, die sich bereits jetzt im Laufe des Projektes abzeichnen:
Der OLJR hat bewirkt, dass
- Belange von Jugendlichen in die Beratungen um Maßnahmen zur Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels in der Region mit einfließen und berücksichtigt werden.
- polnische Jugendliche an dem eigentlich nur auf Deutschland bezogenen Projekt (MORO-Ausschreibung des Bundesverkehrsministeriums) gleichberechtigt beteiligt waren.
- neue Kontakte zwischen deutschen und polnischen Lokalpolitikern aufgebaut werden konnten.
- zahlreiche weitere Jugendliche durch Meinungsumfragen und Gespräche (u.a. mit dem Jugendparlament aus Kostrzyn) mit in die Beratungen einbezogen werden konnten.
- das Mandat des MORO-Prozesses auch auf die konkreten Freizeitbelange der Jugendlichen ausgeweitet wurde, auch wenn Jugendarbeit nicht unter die öffentliche Daseinsvorsorge fällt.
- Schulkooperationen und Projekte zwischen Deutschland und Polen (Seelow, Kostrzyn und Boleszkowice) z.B. zum Spracherwerb angestoßen wurden.
- es zu Qualitätsevaluation der Jugendclubs in der Region durch Befragung der Jugendclub-Mitarbeiter gekommen ist.
5. Fazit und Ausblick
Anhand der von Roger Hart (Hart 1997) entwickelten "Partizipationsleiter" lässt sich aufzeigen, welchen Grad der Mitwirkung den Jugendlichen in diesem Projekt zuerkannt wird. Je nach Umfang der Gestaltungsmacht, die jungen Menschen übertragen wird, lassen sich verschiedene Stufen der Partizipation unterscheiden. Der OLJR kann dabei auf der sechsten Stufe verortet werden. Sie wird bezeichnet als Mitwirkung: "Jugendliche können sich durch Anregungen oder Kritik beteiligen, die endgültige Entscheidungskompetenz liegt aber bei den Erwachsenen – Erwachseneninitiative, geteilte Entscheidung mit Kindern." Diese Stufe der Mitsprache, des Verhandelns und des Gehörtwerdens sind "echte" Formen der Partizipation. Bei den höheren Stufen geht es dann z.B. um Selbstverwaltung von und für Jugendliche. Dabei handelt es sich aber nach Hart nicht um "bessere" Formen der Beteiligung, sondern lediglich um "andere". Junge Menschen entscheiden oder mitentscheiden zu lassen, heißt im Endeffekt, Gestaltungsmacht von Erwachsenen zu reduzieren, so dass Jugendliche selbst Verantwortung für die sie betreffenden Entscheidungen übernehmen können. Beteiligung ist daher eigentlich nur "echt", wenn es wirklich etwas zu gestalten gibt, sich also direkte Folgen und Konsequenzen daraus ergeben. Durch die Mitwirkung des OLJR im MORO-Prozess und das Einfließen der Ergebnisse in den Abschlussbericht ist diese Anforderung bereits weitgehend erfüllt. Gekrönt werden könnte das Projekt, wenn die Jugendlichen auch beim kommenden Schritt, nämlich der politischen Umsetzung der Vorschläge und Planungen, beteiligt werden, und zwar im Rahmen einer festen grenzüberschreitenden Beteiligungsstruktur - wie immer die dann konkret heißen wird.
Literatur
Cohn-Bendit, Daniel / Beck, Ulrich 2012: Wir sind Europa: Manifest zur Neugründung Europas von unten. Allianz Kulturstiftung 2012. URL: http://manifest-europa.eu/allgemein/wir-sind-europa?lang=de [Stand: 31.07.2013].
Dachverband Schweizer Jugendparlamente (Hrsg.) 2010: Handbuch Jugendparlament. Luzern 2010.
Friedrich Ebert Stiftung - Büro Dresden (Hrsg.) 2007: Ohne Jugend ist kein Staat zu machen; Planspiel Kommunalpolitik. Dresden 2007. URL: http://library.fes.de/pdf-files/bueros/dresden/04246.pdf [Stand: 05.09.2013].
Hart, Georg 1997: Children´s Participation. The Theory and Practice of Innovating Young Citizens in Community Development and Environmental Care. Sterling VA. 1997.
Jugend für Europa (Hrsg.) 2010: Partizipation junger Menschen – Nationale Perspektiven und europäischer Kontext. Bonn 2010.
Jugend in Aktion (Hrsg.) 2011: Youthpass-Handbuch. Bonn 2011. URL: https://www.youthpass.eu/downloads/13-62-97/Youthpass%20Guide%20DE.pdf [Stand: 28.10.2013].
Olk, Thomas / Roth, Roland 2007: Zum Nutzen der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Kinder- und Jugendbeteiligung in Deutschland. Gütersloh 2007, Seite 39-57.